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Bild - Kultur - Philosophie

Methodisches aus der kunsthistorischen Praxis: Ikonologie - Ursprünge und Ausblicke

Martina Sauer • 3. April 2024

Rezension eines Forschungsbeitrags von Alice Thaler-Battistini aus dem Jahr 2015, veröffentlicht als  Tagungsbericht der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung

Drei Allgegorien: Die Personifizierung (1.) des Disegno mit dem Zirkel für Maß, Regel und Porportion und dem Spiegel für das Nachdenken über Ideen, 2. die Personifizierung (2.) der Armut bzw. Povertà mit der Bürde des Steins, die für Mangel steht und mit den offenen Flügeln, die den Wünschen nach mehr Ausdruck verleihen und (3.) die Personifizierung der Wahrheit bzw. Verità, deren Nackheit für die reine Wahrheit steht und mit der Sonne als Sinnbild der Erleuchtung durch einen Gott und mit dem Buch als Behältnis der Wahrheit und schließlich dem Palmzweig als Ausdruck des Widerstands gegenüber äußeren Einflüssen


(Foto aus dem Beitrag von Alice Thaler-Battistini über "Empirische Ordnungen, symbolische Werte und die Philosophie der Bilder. Bild und Text in Cesare Ripas Iconologia", S. 13)

Die Ikonologie wie sie Erwin Panofsky als Methode in der Kunstgeschichte seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts etablierte, geht auf eine lange Tradition zurück. Das macht der Beitrag von Alice Thaler-Battistini (Klicken für Aufruf) deutlich. Denn mit ihm zeigt die Autorin die Ursprünge dieses Ansatzes auf, die in dem methodisch vorgehenden Beschreiben und Deuten von Werken der Kunst liegen und für das Verständnis der im Frühbarock um 1600 von Cesare Ripa veröffentlichten Iconologia eine notwendige Voraussetzung ist (S. 16). Doch nicht nur wegen der aufgezeigten historischen Bezüge, dieser für die heutige Kunstgeschichte wichtigen Methode ist der Beitrag unbedingt lesenswert, sondern auch wegen der Tiefe und Präzision der Forschung, die er eröffnet. In nuce stellt die Autorin darin die seit dem frühen 16. Jh. von den Eliten vertretenen Vorstellungen und Werte vor. Sie wurden in Form 400 Illustrationen personalisierter Tugenden und Laster in der Iconologia präsentiert und sollten auch als Vorbild für das einfache Volk dienen. Diesen Zweck können sie erfüllen, indem sie nicht nur als Vorlage für Festumzüge und fürstliche künstlerische Feste zur Verfügung gestellt werden, sondern auch für Volksfeste, wie Ripa es im Titelblatt der ersten Auflage von 1603 festhält (S. 4). Welche Popularität das "Bilderbuch" erlangte, spiegelt sich in den 34 Neuauflagen allein im 17. Jahrhundert über Italien hinaus in Deutschland, Frankreich und England wider und schließlich in einer weiteren Auflage 1866 in Mexiko. 


Diese über alle gesellschaftlichen Schranken des Barocks hinweg herausgestellte Bedeutung der Tugenden und Laster verweist auf aktuelle Forschungsfragen, in denen es weniger um die konkrete Deutung von Einzelmotiven oder Attributen geht als um die leitenden Regelwerke einer Zeit bzw. einer Gemeinschaft. Damit sind Fragen gemeint, die sich auf das beziehen, was je von Menschen in einer Gemeinschaft, in einer Zeit und Kultur als wichtig angesehen und als wertvoll verstanden wurde und sich entsprechend in deren Alltag äußerte. Auf ihnen aufbauend lässt sich schlussfolgern, wie ich es in meinen eigenen Forschungen verfolge, dass hinter den je in einer Zeit und Kultur vertretenen Wertvorstellungen, sich die Empfindungen einer Gemeinschaft* verbergen und damit dasjenige, was sie glücklich macht und dasjenige, was ihr Angst macht (Sauer 2023, 11-32). Auch Thaler-Battistini verweist mit ihrem Beitrag auf das Phänomen, dass mit den Illustrationen Empfindungen geweckt werden sollten, die als Wertvorstellungen zu verstehen sind (S. 3 und 17). Vor diesem Hintergrund kann der Beitrag der Autorin an die aktuelle Diskussion über sogenannte frames anschließen (vgl. hierzu das Call for Paper über Frames and Framing, Deadline 03.04.2024). Denn in bemerkenswerter Weise verdeutlichen die von ihr vorgestellten Erkenntnisse zur Iconologia mit Blick auf solche frames, nicht nur die Ausweitung der vertretenen Wertvorstellungen auf alle Schichten und wichtigen Regionen im Barock, sondern sie verweisen zugleich auf die Tradierung und Wandlungsfähigkeit solcher Ideen, da mit den Illustrationen, wie die Autorin deutlich macht, christliche mit antiken Bildwelten verbunden wurden.


Dass die ins Spiel gebrachte Empathie bzw. das Empfinden dieser Werte nicht nur durch die Wahl der Motive, sondern auch durch den Stil (dem Disegno als klare, lineare Darstellungsweise, die „Farben nur selten als beschreibende Faktoren erwähnt“ S. 7), weitergegeben wurden, ist auch für die Autorin zentral (siehe einführend Seite 3 und abschließend Seite 17). Die konkrete Bedeutung der einzelnen Attribute der Allegorien ist inzwischen jedoch kaum mehr bekannt. Zu ihrer Klärung bedarf es heute einschlägiger Lexika der Ikonographie. Die stilistischen Besonderheiten vermögen hingegen—im aktuellen Sprachgebrauch als Affordanzen verstanden und damit als stilistisch formal wirksame Aspekte—bis heute auf die Betrachter einzuwirken. Panofsky war sich dieser Aspekte bewusst, obwohl er sie selbst methodisch nicht für seinem Ansatz fruchtbar machte. Das erstaunt im Nachhinein umso mehr, da seine Kollegen des Hamburger Zirkels an der neu gegründeten Universität Abby M. Warburg und Ernst Cassirer sich sehr wohl dieser Fragen angenommen hatten. In der Besprechung der formalen Erscheinungsweise der "Pathosformeln" durch ersteren und mit der Betonung der "Ausdruckswahrnehmung" der Betrachtenden durch letzteren, setzten sie sich intensiv damit auseinander (Sauer 2018, 239260).


Als Ausblick verstanden, eröffnet der Beitrag von Alice Thaler-Battistini neue, historisch aufschlussreiche Perspektiven für eine aktuell brisante Diskussion in der Forschung über Methoden und die gesellschaftliche Brisanz von Werken der Kunst und Gestaltung bzw. über Affordanzen und Frames (vgl. Günther & Fabricius 2021).



* In diesem Zusammenhang gilt es einzuschränken, dass diese Gemeinschaften zumeinst von Eliten dominiert werden, die entsprechend ihre Bedürfnisse bzw. ihre Interessen als leitende Ideen weitergeben (Sauer 2021, 11-37).



Literaturhinweise:


Alice Thaler-Battistini. Empirische Ordnungen, symbolische Werte und die Philosophie der Bilder. Bild und Text in Cesare Ripas Iconologia, In Tagungsbericht der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung, 2015, 1-17


Martina Sauer. Marshall McLuhan in a New Light. Old and New Methods of Influencing Emotions in Communities of the Electronic Age. In Beyond Media Literacy, edited by Lars Grabbe, Andrew McLuhan & Tobias Held, 1432. Marburg: Büchner 2023


Martina Sauer. Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft? Cassirers Beitrag zur Vermittlung der Relevanz der Kunst für das Leben. In Ernst Cassirer in systematischen Beziehungen: Zur kritisch-kommunikativen Bedeutung seiner Kulturphilosophie, hg. v. Thiemo Breyer &  Stefan Niklas, 239—260 [Deutsche Zeitschrift für Philosophie/Sonderbände]. De Gruyter: Berlin, 2018


Mehrdeutigkeiten. Rahmentheorien und Affordanzkonzepte in der archäologischen Bildwissenschaft, hg. v. Elisabeth Günther & Johanna Fabricius, Wiesbaden: Harrassowitz, 2021, vgl. darin S. 11-37 meinen Beitrag über  Affordance as a Method in Visual Cultural Studies Based on Theory and Tools of Vitality Semiotics. A historiographic and comparative study of Formal Aesthetics, Iconology, and Affordance using the example of Albrecht Dürer’s Christ Among the Doctors from 1506





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